Harmonie der Gegensätze:

Der oszillierende Charakter der abstrakten Malerei von Christiane Middendorf

Die abstrakten Acryl-Leinwände von Christiane Middendorf machen es dem Betrachter nicht leicht. Scheinen sie zunächst mit harmonischen Farbkompositionen das Auge zum kontemplativen, ja fast meditativen Verweilen einzuladen, so wird aber auch schnell klar, dass diese Harmonie eine gebrochene, ambivalente ist, die dem Betrachter eine aktive Teilnahme abverlangt.

Hier kann er nicht im passiven Konsum an den Bildern vorbeihuschen. Stattdessen muss er sich auf sie einlassen, in sie eintauchen wie in einen eigenen Raum. Und erst wenn er es zulässt, den Raum betritt, erschließt sich ihm ein komplexes Universum Bild gewordener Ideen.

Christiane Middendorf konstruiert dieses Universum mit einer malerischen Technik, die von vielfältigen kunsthistorischen Bezügen zehrt und dabei aber niemals zur Imitation eines Stils, zur historischen Nachahmung verkommt, sondern ihre Kraft aus dem Wechselspiel der vielfältigen Einflüsse bezieht. Was so entsteht, ist keineswegs ein weiteres postmodernes Pastiche der beliebig zusammengesetzten Zitate aus der Kunstgeschichte.

Vielmehr gelingt es Christiane Middendorf, aus der Auseinandersetzung mit der Geschichte der modernen abstrakten Malerei einen eigenständigen Ausdruck zu entwickeln, dessen Prinzip die Überlagerung ist - eine Überlagerung sowohl konzeptueller als auch formaler Art.

Dabei sind es vor allem die Einflüsse aus Expressionismus und Abstraktem Expressionismus mit dessen unterschiedlichen Spielarten der gestischen Malerei und dem Informel, die in Christiane Middendorfs Malerei aufeinander treffen. Ihre Vorbilder sind dabei allerdings weniger in der amerikanischen Abstraktion zu finden, als vielmehr eher im deutschen und französich-italienischen Informel und Tachismus. So denkt man angesichts der Pinselführung zwar an die spontanen Farbsetzungen etwa eines De Kooning oder Motherwell, oder auch an die gestischen Action Paintings von Pollock. Aber die Technik ist hier dennoch eine andere, zwischen Kopf und Gefühl schwankende.

Im Gegensatz zu der spontanen, rauschhaften Umsetzung von unbewussten Kollektivempfindungen im "drip painting"“, oder auch zur Negation jeglicher Form auf riesenhaften Formaten in der Farbfeldmalerei mit einem Anspruch auf die absolute Geltung der objektiven, entindividualisierten Farbfläche, schreibt sich bei Christiane Middendorf das Subjekt in die Leinwand ein - und dieses Subjekt ist eine komplexe Struktur, die in der Interaktion von bewusst gesteuerter malerischer Umsetzung von Realität und unbewusst empfundener Wirkung dieser Realität auf den Betrachter wurzelt und das Bild zu einem Ort der Begegnung von Realität und Idee, Ich und Anderem werden lässt. Während der amerikanische abstrakte Expressionismus seine überwältigende Wirkung in der Sublimität der riesigen Leinwände sucht, geht es hier eher um das Verborgene, Geheimnisvolle.

Darin steht Christiane Middendorf den europäischen Künstlern des Informel und des Tachismus nahe. Allerdings ist deren Hang zur Mystifizierung nicht ihr prägendes Stilmerkmal,auch wenn ihre Kompositionen z.B. Ähnlichkeiten mit den späten Malereien etwa eines Bernhard Schultze aufweisen. Das Geheimnis liegt hier nicht im sich entziehenden Sinn oder in der Leere und dem nicht Fassbaren. Es offenbart sich in der Farbe.

Das erste, was an Christiane Middendorfs Acrylbildern auffällt, ist eine dominierende Farbigkeit, die in ihrer Leuchtkraft an die Pferde Franz Marcs, oder auch an die lebendigen Szenen eines Marc Chagall erinnert. Doch obwohl Titel wie „Küste“, „Grashalm“, „Wasserfall“ durchaus auf reale Natur-Erscheinungen verweisen, ist es die reine Idee, der pure Gedanke, der sich in Christiane Middendorfs Malerei zum abstrakten Bildgefüge verdichtet. Im Gegensatz zur noch im Gegenständlichen verhafteten klassisch expressionistischen Malerei geht es hier zwar auch um eine Verbindung mit der Realität, doch ist diese Realität eine verborgene, versteckte, der Christiane Middendorf in der Abstraktion nachspürt. An die Stelle einer sozialen Komponente tritt hier der Rückzug in die private Sphäre der individuellen Empfindung.

Und diese Empfindung manifestiert sich im Entschwinden,in der Spur des Gegenständlichen, die an den Kanten zwischen den einzelnen Farbflächen sowie in den Überlagerungen der Farbschichten hervor scheint und sich gleichzeitig auch wieder verbirgt. Die oszillierende Wirkung der Komposition lässt sie dann zwischen Harmonie und Irritation, zwischen Komposition und Dekomposition schwanken und schafft eine Atmosphäre, die den Betrachter geradezu in das Bild hineinzieht. Er muss sich die Zeit nehmen, sich auf die Spannung zwischen den Farben sowie zwischen den Farben und dem einfallenden Licht einzulassen, um das Geheimnis der Bilder zu erfassen. Erst durch das Sich-Einlassen erfährt er die Gegenwärtigkeit dieser Kunst, die mit der ihr eigenen Realität sowohl eine eigene Sicht vermittelt, als auch den Betrachter dazu initiiert, seine jeweiligen Erfahrungen und Ideen in den Prozeß der Auseinandersetzung mit der Leinwand einfließen zu lassen. Dadurch wird er in die Zeit eingebettet, welche er als ein Hier und Jetzt erfährt, das ihm einen Weg zu sich selbst über die dynamische Spannung zwischen ihm, dem Bild und der sich im Bild manifestierenden Individualität der Künstlerin ermöglicht. Im Zuge dieser neuen, aus dem Prozeß des Betrachtens erwachsenden Erfahrungshorizonte gelangt er dann zu einem Zustand, in dem das Ich sich selbst als Dialog von Ich und Anderem erkennt und darüber aus seiner heideggerschen isolierten Geworfenheit in die Zeit entkommt.

Christiane Middendorfs Kunst ist damit eigentlich eine interaktive, die aus den vielfältigen Überlagerungen von Farbe und Licht, Idee und Realität, Horizont des Betrachters und Horizont des Künstler-Ichs immer wieder neu und anders erwächst und dabei doch immer sie selbst bleibt. Sie möchte das betrachtende Subjekt nicht in eine kontemplative Versenkung versetzen, über welche es dann in der Selbstvergessenheit eine Gegenwärtigkeit findet – die Gegenwärtigkeit ihrer Malerei findet sich im Prozeß, d.h. in dem Dialog, den die Offenheit der Deutung der Abstraktion, mit ihren Umrissen, die zwischen Andeutungen des Figürlichen und seiner Negation schwanken, in Gang setzt. Darin liegt das Geheimnis ihrer Malerei, in der Oszillation zwischen verschiedenen Polen, aus der ein Spannungsbogen entsteht, der das Erlebnis der farblichen Überlagerungen zu einer Erfahrung des eigenen Selbst werden lässt.

Dr. Melanie Puff, Düsseldorf, Kunsthistorikerin